Rezensionen - Wolfgang Pledl
 

Renzensionen - Wolfgang Pledl

Weigand, Katharina (Hg.): Eine Reise durch Bayern.

 22.06.2022 |  Wolfgang Pledl

Kann man, ganz bequem vom Wohnzimmersessel aus und somit ohne sich nur einen Meter zu Fuß, per Fahrrad, mit dem Auto oder mit dem Zug zu bewegen, eine überaus ansprechende, informative und bildungsreiche Reise zu Geschichte, Kunst und Kultur in ganz Bayern machen? Man kann! Man braucht nur den von Katharina Weigand herausgegebenen und soeben erschienenen Sammelband zur Hand zu nehmen und mit dessen Hilfe dreiundzwanzig Ausflüge an diverse Orte in allen Landesteilen und Regionen unternehmen, „an denen entweder erstaunliche historische Ereignisse stattfanden oder zukunftsweisende Entscheidungen ihren Anfang nahmen, an denen bedeutende Menschen wirkten oder an denen in besonderer Weise die Erinnerung an einzelne Zeitabschnitte der Geschichte Bayerns, gerade auch an die NS-Zeit, aufrechterhalten wird“ (Einleitung, S. 11). Und je nachdem, ob man in Scheyern gedanklich Station macht oder in Bayreuth, in Münnerstadt oder in Fürth, in Augsburg oder in Neuburg an der Donau, in Oberammergau oder in Flossenbürg, ob man den Ludwigskanal abschreitet, das Walchenseekraftwerk aufsucht oder auf dem Obersalzberg die steinernen Zeugen der Hybris der Nationalsozialisten in Augenschein nimmt, berücksichtigt werden sowohl alle Epochen vom frühen Mittelalter bis in unsere Tage hinein, als auch alle Themen: dynastische und politische Verflechtungen, macht- und wirtschaftspolitische Fragestellungen, konfessionelle Auseinandersetzungen, Aspekte der Kunst und Architektur.

Ausgangspunkt dieses „Reiseführers“ ist die von Prof. Hans-Michael Körner, bayerischer Landeshistoriker und langjähriger Ordinarius für die Didaktik der Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, im Sommersemester 2000 ins Leben gerufene „Bavaristische Ringvorlesung“, die über viele Jahre hinweg jeden Mittwochabend Hunderte von Zuhörern im stets voll besetzten Auditorium maximum besuchten. Grundgedanke war es, bayerische Geschichte auf höchstem wissenschaftlichen Niveau, aber dennoch allgemein verständlich, zu vermitteln.

„Reise durch Bayern“ lautete der Titel der letzten Ringvorlesungsstaffel, für die, wie bei allen Vorgängern, Prof. Körner und dessen langjährige Kollegin und Mitarbeiterin Dr. Katharina Weigand, Expertinnen und Experten gewinnen konnten, die nicht nur fachlich bestens Bescheid wissen, sondern auch einen persönlichen Bezug zum jeweiligen Thema haben. So befasst sich beispielsweise Michael Stephan, bis vor kurzem Leiter des Stadtarchivs München, mit dem Kloster Scheyern, das bereits im Zentrum seiner Dissertation stand, während sich Hermann Rumschöttel, aufgewachsen in Bad Reichenhall und dann langjähriger Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns, und Hans-Michael Körner ihren Heimatstädten widmen, der Nördlinger Stadtarchivar Wilfried Sponsel der Frage nachgeht, was passierte, als die bis 1802/03 Freie Reichsstadt bayerisch wurde, der Direktor der Schwabenakademie Irsee, Markwart Herzog, der Geschichte seines Hauses nachspürt, Wilhelm Füßl, der Leiter des Archivs des Deutschen Museums und Biograph Oskar von Millers, das Walchenseekraftwerk vorstellt, oder der Archivar Peter Fleischmann, einer der besten Kenner Nürnbergs, fast etwas wehmütig der Dürerzeit nachtrauert.

Kurzum: Der Band bietet alles, was man sich von so einem umfassenden, bestens recherchierten, wissenschaftlich exakt begleiteten und auch gut lesbaren Werk verspricht: Einerseits unzählige nüchterne historische Daten und das dazu notwendige Hintergrundwissen, um das Gelesene auch richtig in einen gesamtbayerischen Zusammenhang einordnen zu können. Andererseits aber auch manche Erklärungen dafür, weshalb Land und Leute in Bayern mitunter doch eigene Wege gingen: So erläutert beispielsweise Johannes Lang überzeugend, warum die Berchtesgadener bis heute ein überaus ausgeprägtes fürstpropsteiliches Landesbewusstsein haben, und Tobias Appl erklärt, weshalb es im zutiefst niederbayerischen Ortenburg, altbayernweit völlig untypisch, noch heute gleich viele Katholiken wie Protestanten gibt. Katharina Weigand führt zudem anschaulich vor Augen, dass schon im späten 19. Jahrhundert „ausnehmend viele bayerische Minister und hohe Ministerialbeamte aus Unterfranken stammten, und so für einen integrationsfördernden Eliteaustausch sorgten“ (S. 309).

All diese Erkenntnisse sind längst nicht in jedem bayerischen Geschichtsbuch verbreitet. Umso mehr ist zu wünschen, dass sie mit dem vorliegenden Werk vermehrt wahrgenommen werden.

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Diese Buchbesprechung hat uns freundlicherweise vom Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege e.V. „Schönere Heimat“ zur Verfügung gestellt.

Winkler, Richard: Der Salvator auf dem Nockherberg.

 22.06.2022 |  Wolfgang Pledl

Was es mit der viel beschworenen „Liberalitas Bavarica“ tatsächlich auf sich hat und ob es diese Lebensphilosophie, die bekanntlich heute so gerne von Politikern aller Couleur, Wirtschaftsführern, Kulturmanagern und Tourismusexperten propagiert wird, jemals wirklich gab, wissen wir nicht. Wie tiefschürfend, vielschichtig und umstritten dieses Thema ist, hat erst vor kurzem Egon Johannes Greipl, gelernter bayerischer Landeshistoriker und jahrelanger Generalkonservator am Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege, in einem kritischen, gerade aber auch deshalb überaus lesenswerten Beitrag in der Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte aufgezeigt (Bd. 81/2018, S. 475–495). Aber wenn wir trotzdem davon ausgehen, dass in Bayern stets das Prinzip „Leben und leben lassen“ galt, dann liefert das von Richard Winkler, seit 2001 stellvertretender Leiter des Bayerischen Wirtschaftsarchivs und Autor mehrerer umfassender Monografien und zahlreicher Aufsätze zu Themen der Landes-, Wirtschafts-, Unternehmens- und Kartografiegeschichte Bayerns, verfasste Werk „Der Salvator auf dem Nockherberg“ ein wahrlich gutes Beispiel dafür. Blättert man nämlich – gleichsam als Entrée – den Band erst einmal interessiert durch, bevor man, dadurch neugierig geworden, ihn Zeile für Zeile liest, so ist man immer wieder davon fasziniert, wie die Leidenschaft für das hochprozentige Bier seit fast 400 Jahren Menschen aller Schichten zusammenbrachte und sogar in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dafür sorgte, dass sich die Obrigkeit nicht getraute, ein von ihr erlassenes Brauverbot durchzusetzen, sondern nach jahrzehntellangem zähen Widerstand des Brauers und der Liebhaber des Gerstensaftes den Erlass stillschweigend wieder einzog. Oder nehmen wir als anderes Beispiel den Starkbieranstich auf dem Nockherberg der letzten rund 50 Jahre: Da wurde eine gewiss nicht im Rampenlicht stehende, robuste und zupackende Kellnerin als „Miss Salvator“ prämiert, während Kaiserin Soraya von Persien, Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher, Angela Merkel, Maria Schell, Romy Schneider, Gert Fröbe und Hans Moser ihre Maßkrüge stemmten und sich Franz-Josef Strauß Schulter an Schulter mit Hans-Jochen Vogel bestens amüsierten. Freilich: Ob die Prominenten stets so gut gelaunt waren, wie sie es vor den Kameras demonstrierten, konnte Richard Winkler natürlich nicht klären. Tatsache ist jedenfalls, dass eine ganze Reihe hochkarätiger und durchaus gesellschaftskritischer Kabarettisten als Fastenprediger auftrat und den Politikern mehr oder weniger deftig die Leviten las, was bei diesen gewiss nicht immer auf Begeisterung stieß. Doch bei allem Schenkelklopfen über die Jahrzehnte hinweg sollte man nicht vergessen, dass auch der Nockherberg dunkle Zeiten erlebte und etwa der Starkbierredner Karl Steinacker bereits 1933 in die NSDAP eingetreten war und ein Jahr später seine Eröffnungsrede des Starkbieranstiches mit den Worten schloss: „Des siecht sogar der ärgste Krittler / ’s gibt auf der Welt koan zwoatn Hitler! / Und weil wir so an Führer ham, / gibt’s nur des oane: Leut halt’s z’amm / und arbats mit ihm Hand in Hand / fürs neue deutsche Vaterland!“ Und auch wenn die Zeitebenen nicht exakt zueinander passen: Gibt es ein besseres Beispiel dafür, was die allem Bayerischen wohl sehr kritisch gegenüberstehende Frankfurter Schule rund um das weltweit renommierte Institut für Sozialforschung stets als „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ propagiert?

Perspektivenwechsel – und somit ganz nüchtern zurück zu einer in Wort und Bild vorzüglichen Studie zur Münchner Stadtgeschichte besonderer Art: Reinhard Winklers Schilderung der Erfolgsgeschichte der Paulanerbrauerei von den äußerst bescheidenen Anfängen in der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur heutigen Präsenz in über 80 Märkten weltweit, des Starkbieres Salvator und des inzwischen nicht nur bayern-, sondern deutschland-, ja sogar weltweiten Fernseh-Events des Starkbieranstichs ist viel mehr als nur ein apologetisches Loblied auf die Welt des Bieres. Akribisch aus unzähligen Zeitungsartikeln, der einschlägigen Literatur, Nachweisen im Internet, den hauseigenen Quellen des bayerischen Wirtschaftsarchivs sowie den Beständen weiterer privater und staatlicher Archive erarbeitet, zeichnet Winkler fast minutiös die Geschichte der Münchner Paulanerbrauerei und ihres weltberühmten Starkbieres nach, wobei er sich trotz vieler, sehr feingliedrig angelegter, mitunter naturgemäß ziemlich trockener, aber dennoch sehr aussagekräftiger Statistiken und Tabellen nie in Details verliert, sondern stets das Große und Ganze im Auge behält: das Brauwesen einst und jetzt in all seinen Facetten, die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Situation in München über mehrere Jahrhunderte hinweg, die Alltagskultur der Menschen unterschiedlichster Schichten und deren Bedürfnis, ihrem täglichen Leben zu entfliehen – und nicht zuletzt auch die Entwicklung der Medien und deren rasanten Siegeszug seit den 1960er Jahren.

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Diese Buchbesprechung hat uns freundlicherweise vom Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege e.V. „Schönere Heimat“ zur Verfügung gestellt.

Gemeinde Sielenbach

 16.07.2021 |  Wolfgang Pledl

Die Zeiten, in denen quasi alle paar Wochen irgendwo in Bayern eine Ortschronik erschien, sind längst vorbei. Dies liegt zum einen daran, dass mittlerweile die meisten Gemeinden Publikationen über ihre Geschichte herausgebracht haben. Es liegt zum anderen aber sicherlich auch daran, dass es immer weniger Forscher gibt, die das nötige fachliche Rüstzeug mitbringen, um sich an eine solch monumentale Aufgabe heranzuwagen. Umso mehr freut man sich daher über jedes neue gelungene Ortsbuch. Ein solches Beispiel für ein ebenso inhaltsreiches und fundiertes wie ansprechend aufbereitetes Werk hat nun die Gemeinde Sielenbach im Landkreis Aichach-Friedberg vorgelegt.

Keine Frage: Damit ein solches Buchprojekt zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden kann, müssen die Voraussetzungen stimmen, so wie es auch in Sielenbach der Fall war. Obwohl die Gemeinde keine 2000 Einwohner zählt, war sie bereit, eine beträchtliche Geldsumme in die Hand zu nehmen, um die eigene Vergangenheit sachkundig aufarbeiten zu lassen. Als Herausgeber konnte sie zwei Fachleute gewinnen, die für diese Aufgabe geradezu prädestiniert waren: den Landeshistoriker Prof. Dr. Wilhelm Liebhart, der bereits mehrere Ortsbücher ediert sowie zahllose Beiträge zur Geschichte des Aichacher Raumes verfasst hat, sowie den Diplom-Geographen Michael Ritter, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege, der seit Jahrzehnten Material über sein Heimatdorf Sielenbach zusammengetragen und ebenfalls heimatgeschichtliche Aufsätze veröffentlicht hat. Den beiden Herausgebern, die selbstverständlich selbst mehrere Beiträge zu Papier brachten, stand eine Reihe überaus kompetenter Autoren zur Seite, die verschiedenste Themen bearbeiteten. Dies waren Verfasser, die entweder – wie Angela Asam (Pfarrgeschichte Tödtenried) – aus der Gemeinde selbst kamen, die – wie Kreisheimatpfleger Dr. Hubert Raab (Vorgeschichte, Kapellen) und Kreisarchivpfleger Wolfgang Brandner (Ortsgeschichte 1945 bis 1978) – regionale Fachkompetenz einbrachten, oder die – wie der Namenforscher Dr. Wolf-Armin Frhr. von Reitzenstein (Ortsnamen) und der Kunsthistoriker Dr. Stefan Nadler (u. a. Wallfahrtskirche Maria Birnbaum) in überregionalen Fachinstitutionen wissenschaftlich tätig sind.

Inhaltlich deckt das Buch alle Bereiche ab, wie sie in einer Ortschronik nicht fehlen sollten. Neben der ausführlichen Darstellung der historischen Entwicklung Sielenbachs und seiner Ortsteile in Vorgeschichte, Mittelalter und Neuzeit werden Themen wie Natur und Landschaft, Kirchen- und Schulgeschichte, Haus- und Flurnamen, Landwirtschaft und Gewerbe, Volkskultur und Gesellschaft aufbereitet. Auch die örtlichen Vereine, die in Ortsbüchern ansonsten oft sehr stiefmütterlich behandelt werden, obwohl sie ein wesentlicher Identifikationsfaktor im dörflichen Leben sind, finden breite Berücksichtigung. Lobenswert ist zudem die Tatsache, dass die Beschreibungen möglichst bis in die Gegenwart herangeführt wurden und dabei auch heikle Themen nicht ausgespart sind. So wurden etwa von Dr. Cornelia Oelwein die persönlichen Verstrickungen einzelner Bürger in der Zeit des Nationalsozialismus ebenso wenig verschwiegen wie von Dr. Berndt Herrmann die kommunalpolitischen Streitereien in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.

Spannend bei der Lektüre von Ortsmonographien ist auch die Tatsache, dass immer wieder Quellen Eingang finden, die von der Fachwissenschaft bislang nicht entdeckt oder zumindest nicht wahrgenommen wurden. Erwähnt seien hier beispielsweise die volkskundlichen Aufzeichnungen eines Sielenbacher Lehrerssohnes aus den 1920er Jahren, die in Dr. Monika Ständeckes Beitrag über Bräuche und Feste einflossen. Und auch manch unübliches methodisches Vorgehen führte zu außerordentlich ertragreichen Ergebnissen wie etwa der Aufsatz von Erich Hofgärtner über die Sielenbacher Tracht, die er am Beispiel der letzten Frau im Dorf, die noch das ortstypische „boarische Gwand“ getragen hatte, veranschaulichte, nachdem er in mehreren Interviews mit ihr nicht nur einzigartige kleidungsgeschichtliche Informationen, sondern auch die Anlässe, zu denen die verschiedenen Trachten getragen wurden, in Erfahrung gebracht hatte.

Trotz all dieser inhaltlichen Fülle ist die Lektüre dieses Buches jedoch keineswegs ermüdend, umso weniger als immer wieder auch Berichte über außergewöhnliche Ereignisse eingestreut sind, sei es der Doppelmord von 1868, der in ganz Bayern Aufsehen erregte, die Lebensgeschichte eines abenteuerlustigen jungen Mannes, der in den 1920er Jahren als „Tippelbruder“ durch die Welt reiste, oder die Hochwasserkatastrophe von 1966, die ein Menschenleben forderte. Über die Texte der knapp 40 Beiträge hinaus lädt eine Vielzahl an Abbildungen ein, in die einstige Alltagswelt eines Bauerndorfes einzutauchen.

Die Gemeinde Sielenbach hat sich selbst mit dem Erscheinen dieses Werkes einen lange gehegten Wunsch erfüllt, wie Bürgermeister Martin Echter in seinem Vorwort hervorhebt. Sie hat aber auch ihren Bürgerinnen und Bürgern ein Geschenk gemacht, das ihnen fraglos viele anregende Stunden bescheren wird. Darüber hinaus sei jedoch nicht vergessen, dass Publikationen wie das Ortsbuch von Sielenbach auch einen außerordentlich wichtigen Beitrag leisten, um das Verständnis für unsere Heimat zu vertiefen.

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Diese Buchbesprechung hat uns freundlicherweise vom Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege e.V. „Schönere Heimat“ zur Verfügung gestellt.

Heimat und Heimaten

 15.07.2021 |  Wolfgang Pledl

Als der Rezensent vor rund 25 Jahren damit begann, für die Bibliothek des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege systematisch alles zu sammeln, was an wissenschaftlichen Arbeiten, aber auch an qualitätvoller belletristischer Literatur zum Thema „Heimat“ erschien, war der Ertrag ziemlich bescheiden. Nahezu niemand interessierte sich damals beispielsweise dafür, wie und weshalb die Heimatschutzbewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert entstand, was man in den 1920er Jahren unter Heimat verstand, wie Heimat von den Nationalsozialisten missbraucht wurde und wie sentimental man mit Heimat in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs umging. Heute ist dies völlig anders: Heimat ist in aller Munde – und fast jeder glaubt, sich dazu irgendwie äußern zu müssen. Kein Wunder also, dass man jederzeit und überall etwas über Heimat lesen, hören und sehen kann. Dass dabei vieles publiziert oder gesendet wird, das man ruhigen Gewissens nicht zur Kenntnis nehmen muss, versteht sich nahezu von selbst. Doch andererseits stößt man immer wieder auf Veröffentlichungen, die sich dem Thema aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln nähern und dabei durchaus Neues und Interessantes zutage fördern.

Als erstes von fünf Beispielen sei der Sammelband „Heimat. Ein vielfältiges Konstrukt“ genannt, der laut Klappentext einen Beitrag „zur Klärung und Einordnung unterschiedlicher Positionen im Kontext des ‚umkämpften‘ Feldes Heimat“ leisten will. Dementsprechend präsentieren hier 30 renommierte Wissenschaftler aus ganz unterschiedlichen Fachgebieten, was aus ihrer Perspektive zum Thema „Heimat“ zu sagen ist. So wird zum Beispiel aus psychotherapeutischer Sicht dargestellt, wie alltägliche ästhetische Wahrnehmungen das Entstehen von Heimatempfinden und Heimatbewusstsein beeinflussen und wie wichtig das Heimatbewusstsein für die psychische Gesundheit ist, während der Naturschützer danach fragt, wie Ortsidentität die Landschaft vor ihrer Zerstörung bewahrt, oder der Soziologe, mit welchen Argumenten die Heimat gegenüber der Einvernahme durch rechtspopulistische Akteure geschützt werden kann. Alles in allem also ein Band, der die ausfransende Diskussion um Heimat im Zeitalter von Globalisierung und Fragmentierung der Gesellschaft, von Einwanderung und landschaftlichen Wandlungsprozessen sowohl auf der wissenschaftlichen als auch auf der gesellschaftspolitischen Ebene bereichert.

Auch das Kursbuch 198 mit dem verfremdenden Titel „Heimatt“ geht davon aus, dass die immer komplexer werdende Gesellschaft Lücken lässt, die der Einzelne für sich füllt. Was konkret dabei herauskommt, hängt natürlich davon ab, welche Neigungen und Interessen der Einzelne hat, in welcher Lebenslage er sich befindet und welchem gesellschaftlichen Milieu er angehört. Folgerichtig gehen die Autoren des Kursbuchs ganz bewusst nicht der immer wieder fast schon reflexartig gestellten Frage nach, ob es so etwas wie Heimat überhaupt gibt, und – falls ja – wie wir sie uns dann vorzustellen hätten, sondern beschäftigen sich mit Besonderheiten, die diesen Begriff prägen. Dies können Erinnerungen, einschlägige Erlebnisse, Vorstellungen, Wünsche oder auch Gefühle sein, die je nach Suchendem naturgemäß sehr unterschiedlich sind und somit erheblich dazu beitragen, dass der Begriff „Heimat“ sowohl semantisch als auch inhaltlich so schwer zu fassen ist. Umgekehrt weisen die zu Wort kommenden dreizehn Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler und Journalisten aber auch darauf hin, dass es trotz aller persönlichen Aneignung von Heimat auch immer um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und somit auch um die Ausgrenzung Anderer geht. Nachdrücklich erinnern sie deshalb sowohl im Rückblick auf die vergangenen Jahrhunderte als auch vor dem Hintergrund von Globalisierung, Mobilität und modernen Wanderbewegungen daran, dass es kein alleiniges Recht auf Heimat gibt, sondern jeder Einzelne auch die Heimat des Anderen zu respektieren habe.

Im Gegensatz zu den beiden von Martina Hülz, Olaf Kühne und Florian Weber sowie Armin Nassehi und Peter Felixberger herausgegebenen Sammelbänden geht es dem Kulturhistoriker und Migrationsberater Jürgen Küster nicht um das Phänomen Heimat in einem umfassenden politischen und gesellschaftlichen Kontext, sondern primär um den Zusammenhang zwischen Volkskultur und Heimat. Sowohl unter Studenten als auch im Rahmen seiner vielschichtigen Tätigkeit im Bereich der Erwachsenenbildung habe er, so Küster einführend, immer wieder festgestellt, dass engagierte Heimatfreunde und Volksvertreter gerne eine idealisierte Vorstellung von Volkskultur, Nation, Region und Geschichte hätten. Dabei seien „die Bedingungen oft unklar, unter denen die gelebten oder betrachteten Traditionen entstanden sind, welche Absichten mit ihnen verbunden waren und sind, und welche Zwecke sie verfolgen. Mit diesen Idealisierungen thronen Prämissen zu uraltem Herkommen, nationalem und – schon deshalb – wertvollem Erbe und heimatlich-regionaler Einzigartigkeit über den historischen Fakten und verstellen den kritischen Blick“. Und noch einen Schritt weiter: „Im Zuge aufgeflammter Migrations- und Integrationsfragen tauchen diese Idealisierungen nicht mehr nur im Zusammenhang von Vereinsfeiern, in Unterrichtssituationen und bei Volksfesten, sondern plötzlich auch im Rahmen politischer Auseinandersetzungen, Aufgaben und Konzepte auf“. Um nicht nur scheinbar unausrottbare Irrtümer richtigzustellen, sondern auch der von ihm heftig kritisierten Ideologisierung nüchterne Fakten entgegenzustellen, zeigt Küster an vielen Beispielen aus dem Weihnachts- und Osterfestkreis, wie sich diese religiösen Bräuche von der Spätantike über Mittelalter und Frühe Neuzeit entwickelten und wie sie stets eng in ihre Zeitepoche eingebunden waren und von ihr auch entscheidend geprägt wurden. Kurzum: Wer immer noch glaubt, dass Adventskalender, Adventskranz und Christbaum „seit urfürdenklichen Zeiten“ fester Bestandteil unserer (vor)weihnachtlichen Bräuche gewesen seien, sollte sich schleunigst diese Publikation besorgen. Denn er wird dann – nicht nur in diesem Bereich – sachkundig und überzeugend eines Besseren belehrt werden.

Wiederum einen ganz anderen Zugriff auf das Thema „Heimat“ bietet die Publikation „Heimatrauschen“, die zwar in Buchform erschienen, aber eher wie eine populäre Zeitschrift oder ein Magazin gestaltet ist: Große Überschriften, kurze, griffig formulierte Texte, viele abwechslungsreiche, mit besonderer Liebe zum Detail erstellte und mitunter ganz unerwartete Bilder unterschiedlichsten Formats sowie eine Menge an zusätzlichen, weit über das eigentliche Thema hinausgehenden Informationen. Ausgangspunkt dieser Veröffentlichung ist die seit Jahren einmal im Monat im BR gesendete gleichnamige Serie „Heimatrauschen“, in der Florian Wagner sowohl Geschichten, Menschen und Orte zusammenbringen als auch die Traditionen mit zeitgemäßen Elementen verbinden will. Obwohl er so manchem Klischee erliegt, ist ihm dies alles in allem recht gut gelungen. Ob „Fesche Frauen“, „Gstandene Männer“, „Pfundige Musik“, „Boarischer Style“, „Bsunder Sachen“, „Guede Schmankerl“, Geschmeidige Ideen“ oder „Kernige Arbeit“, wer sich vorurteilsfrei in das eine oder andere Kapitel vertieft, wird vieles finden, was er so nicht erwartet hat und ihn vielleicht gerade deshalb anspricht und dazu anregt, einmal darüber nachzudenken, wie Heimat von anderen Zeitgenossen wahrgenommen wird. So findet man etwa einen Trachtenjanker im neuen Design, ein Beispiel für eine moderne fränkische Tracht, ein Loblied auf starke Alphornbläserinnen, ein Porträt der ältesten Kellnerin Bayerns, ein Plädoyer, den klassischen Trachtenzopf zum trendigen Kopfschmuck weiterzuentwickeln, heimatliche Motive auf Tattoos, ein Rezept für Weißwürste aus dem Wok, einen Hinweis auf eine junge und wilde „Winzergeneration Y“ oder Graffiti rund um das ehrwürdige Kloster St. Ottilien.

Letztes Beispiel einer Neuerscheinung: der überzeugende Nachweis, dass es Heimat nicht nur im Singular, sondern auch im Plural gibt, oder, wie es Norbert Göttler, Bezirksheimatpfleger Oberbayerns, formuliert: „Viele von uns tragen mehrere Heimaten in ihren Herzen – regionale und kosmopolitische, kulturelle und geistige, seelische und religiöse. Was in der Theorie leicht gesagt ist, muss sich im wahren Leben erst bewähren. Wie geht man mit verlorenen und gebrochenen Heimaten um? Was ist, wenn man sich eine Zeitlang heimatlos fühlt? Wie schafft man sich neue Heimaten?“ Er hat dazu die Rektorin der Montessori-Schule Wertingen und Lehrbeauftragte für Montessori-Pädagogik an den Universitäten München, Passau und Augsburg, Ingeborg Müller-Hohagen (geb. 1938 in Dresden), sowie deren Ehemann, den Psychologen und Psychotherapeuten Dr. Jürgen Müller-Hohagen (geb. 1946 in Hohenlimburg bei Hagen) befragt. Herausgekommen ist dabei ein an den Seitenzahlen gemessen zwar nur schmaler Band, der es aber dennoch in sich hat. In Form von einprägsamen Bildern und kurzen Berichten unternehmen die beiden Autoren, die vielfach nicht nur in Deutschland ihren Wohnort wechselten, sondern auch in Italien ansässig sind, eine eindrucksvolle Reise zwischen Vergangenheit und Gegenwart – und versuchen dabei unter anderem Antworten auf folgende Fragen zu geben: „Wo befindet sich unsere erste Heimat?“, „Was für Heimaten kommen für uns noch in Frage?“, „Was bedeutet Heimat in Zeiten immer noch weiter erhöhter Mobilität, gesellschaftsweiter Spaltungen rund um Migration, Fremdheit und Fremde, angesichts von offenen und verborgenen Globalisierungsängsten?“ oder „Was für Folgen hat es, wenn Heimat die angestaubten Ecken, in denen sie viele Jahre dahinvegetierte, plötzlich verlässt?“ Kein Zweifel also: Dies sind elementare Fragestellungen, mit denen sich das Ehepaar Müller-Hohagen auf sehr persönliche Weise auseinandersetzt. Dabei räumen sie bereits einleitend ein, dass sie ihre Überlegungen – so wie letztlich alle Autoren, die sich mit der Heimat befassen – anstellen „ohne den Anspruch zu letzten Gewissheiten kommen zu müssen. Dafür ist dieses Thema viel zu komplex.“

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Diese Buchbesprechung hat uns freundlicherweise vom Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege e.V. „Schönere Heimat“ zur Verfügung gestellt.

litera bavarica ist eine Unternehmung der Histonauten und der Edition Luftschiffer (ein Imprint der edition tingeltangel)
in Zusammenarbeit mit Gerhard Willhalm (stadtgeschichte-muenchen.de)


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